Wann Kollektive Intelligenz nicht funktionieren kann (Teil 9 von 9)

Um einmal mit einer anderen Frage als der nach den Erfolgsfaktoren zu schliessen, rundet die Frage „Was ist der Tod einer Collective-Intelligence-Anwendung?“ dieses Interview mit Prof. Dr. Christian Wagner ab.

Als ersten zerstörenden Faktor nennt Professor Wagner:
Speziell in meinem Erfahrungsraum (Anm.: in China wohnend) ist das Aussprechen seiner eigenen Meinung in einer Gruppe nicht immer das kulturell Richtige. Z.B. wird, wenn der Chief Executive etwas sagt und man im gleichen Raum ist, eifrig genickt. Das sieht man auch oftmals in Unternehmen. … Es ist eben so wichtig, dass es eine Vielfalt von Meinungen gibt, die auf einer Vielfalt von Theorien beruhen, und auf einer Vielfalt von Information, und dass die nicht abgesprochen werden.
Selbst solche Techniken wie Synectics haben dieses Prinzip. In der divergierenden Phase dürfen die Teilnehmer der Expertengruppe nicht miteinander sprechen. Wir wissen ja, dass ‚Group Think‚ dann doch die Meinungsvielfalt zerstört und damit nicht die Qualität erzielt, die wir wirklich brauchen,.

Als K.O.-Punkt 2 führt er an:
Man kann nicht aus Unwissen Wissen machen. Ich sagte vorher, oftmals kann man irgendetwas Falsches aus vielen Möglichkeiten ausschliessen. Aber nur Raten, am Ende aggregiert, ist immer noch Raten. Etwas Wissen muss da sein. Man kann aus ein bisschen Wissen Wissen machen.

Eine interessante Erfahrung aus seiner Arbeit mit Studierenden ist:  Die Graduate-Studierenden, die im Betriebsleben stehen, sind im Vergleich zu den jüngeren Undergraduate-Studierenden oftmals die besseren Schätzer. Das ist ganz erstaunlich (selbst wenn es um so etwas geht, wie die Anzahl der Erdnüsse in einem Gefäss zu schätzen). Ich weiss nicht warum, aber sie tun es. Und das ist oftmals der Unterschied zwischen Wisdom of Crowds bestätigt oder nicht bestätigt.

Ein Wiki ist festgehaltene Diskussion (Teil 8 von 9)

Welche Beispiele machen deutlich, dass Collective Intelligence und Conversational Knowledge Management – wie mit Wikis – im Geschäftsumfeld relevant sind? Auf diese Frage geht Prof. Dr. Christian Wagner  in diesem Teil des Interviews ein.

  • Die Verspätung in der Produktentwicklung ist in allen Unternehmen ein Thema. Das Projekt Boeing 787 Dreamliner lieferte ein Beispiel, dass die Collective-Intelligence-Prognose zum Projektabschluss treffender als die der Unternehmensleitung war. Professor Wagner schildert: „Wo Boeing zunächst sagte: Ja, den Zeitplan, den wir vorgegeben haben, den kriegen wir schon hin, musste die Unternehmensspitze einen Monat später angeben: Wir haben uns geirrt, wir sind zu spät dran. Und sechs Monate später mussten sie es wieder zugeben. Die Prediction Markets (öffentlicher, in USA, wo die Teilnehmer um Geld spielen) wussten es schon im September. Die angenommene Wahrscheinlichkeit, dass Boeing den Termin schaffen würde, lag nur bei 25%. Diese Tatsache über Collective Intelligence zu hören, ist beeindruckend für Leute in Unternehmen.“
  • Wagner erzählt weiter von seiner bereits einige Jahre zurückliegenden Erfahrung mit einem Unternehmen, in dem Reorganisationen im Gange waren: „Es gab kein ‚Geheimnis‘ in dem Unternehmen, was nicht in den öffentlichen Diskussionsforen besprochen wurde … wieviele Leute entlassen werden würden, wie die Umstrukturierung vorging. Im Internet gab es nie etwas zu finden.
  • Dies nun führt Wagner zu einer prominenten These des Cluetrain Manifest: „Markets are Conversations“ bzw. Märkte sind Gespräche. Er sagt: Aber eigentlich ist alles Wissen Konversation. Ich spreche oftmals auch von ‚Conversational Knowledge Management‘, Knowledge Management in der Konversation. Und Wikis sind eigentlich festgehaltene, eingefrorene Diskussion; und so sollte es auch sein, dass Wissen nicht ein Produkt ist, das im Nachhinein entsteht oder was nach Projektende von der Arbeitsgruppe dokumentiert wird. Nein: Das Wissen sollte sich selbst dokumentieren, während wir ein Projekt durchführen. Dann ist das auf einmal da. Denn nur dann kann das Unternehmen es schaffen, mit dem Wissen mitzuhalten.

Alchemie der Aggregierung von Light Knowledge (Teil 7 von 9)

In den Vortragsunterlagen von Prof. Dr. Christian Wagner, die er zu meiner Lehrveranstaltung beigetragen hat, fiel mir der Begriff „Light Knowledge“ auf und mir drängte sich diese Frage an ihn auf: „Funktioniert mit Informationen – mit Light Knowledge, wovon die Alchemisten geträumt haben? Nämlich aus unedlen Metalen Gold machen zu können?“. Um es vorwegzunehmen, er sagt: Nein, es ist nicht das Gleiche.

Hier aus dem Gespräch die wesentlichen Erläuterungen, welches „Light Knowledge“ wie und zu was verwandelt wird. Wagner sagt:

  • Ich würde Knowledge Light so beschreiben: Das sind Informationsteilchen, die der Einzelne preisgeben kann, ohne grosse Mühe, diese sind sehr einfach wegzugeben. Jeder gibt nur so einen kleinen Teil – das kann man nicht einmal als Knowledge bezeichnen, sondern als Datenpunkt. Und die Gruppe weiss auf einmal viel mehr durch die Aggregierung.
  • Oftmals, in Unternehmen, fällt es uns so schwer, alle Richtlinien zu kennen, ein gesamtes Regelwerk zu beschreiben. Aber wenn jeder ein bisschen schreibt, was dem Einzelnen leicht fällt, und wir das dann aggregieren können, auf einmal haben wir enorm viel.
  • Ist es das Gleiche? (Anm.: gemeint ist die Analogie zur Alchemie, die sozusagen aus Pech Gold machen will). Nein, ist es nicht! Ich möchte wirklich wieder dieses Energie/Entropie-Beispiel nehmen: Die Energie, oder die Information, ist schon enthalten; aber sie ist niederwertig. Durch diese „Intelligenzpumpe“ (vgl. Interview-Teil 4) reichern wir die Intelligenz von diesem „Knowledge Light“ an. Das was enthalten ist, wird verbessert.
  • Da wird nicht aus Nichtwissen Wissen, sondern da wird aus kleinem Wissen grosses Wissen.

Weisheit der Vielen: Gut genug oder haargenau (Teil 6 von 9)

Im letzten Satz dieses Gesprächsausschnitts sagt Prof. Dr. Christian Wagner über Informationen, dass „gut genug“ zwar anders ist als „haargenau“; dennoch muss man nicht alles ganz genau wissen, um im täglichen Leben – auch im unternehmerischen Umfeld – damit umgehen zu können. An Beispielen wie der Kreiszahl Pi und Christoph Kolumbus erläutert er uns, dass die Präzision, die man haben muss, immer noch eine Frage der Anwendung ist.

  • Eine Messlatte, das „Gut-genug-“ mit dem „Haargenau-Prinzip“ zu vergleichen, ist für ihn die Gegenüberstellung von Wikipedia und Citizendium, das den Anspruch hat, durch einen besseren Prozess der Qualitätssicherung bessere Artikel herzustellen. Wagner sagt: Die Artikel sehen erstaunlich gleich aus. Citizendium benutzt auch Wikipedia als ihr Basismaterial. Ich sehe nicht, dass der Prozess so qualitätssteigernd ist, und er ist eben lange nicht so schnell.
  • Auch noch eine Sache, die wir lernen müssen ist: Als Akademiker sagen wir immer: das muss die reine klare Wahrheit sein, da darf nichts falsch sein. Aber als Menschen arbeiten wir doch häufig mit Informationen, die gut genug sind. … Wir müssen uns im täglichen Leben ja immer mit unvollständigen Informationen durch die Welt schlagen … und auch mit Informationen, die … teilweise falsch sind.