Podiumsdiskussion Bologna-IT-Hochschulentwicklung

Wordle-Cloud aus Artikel von Prof. Dr. R. Dubs, Nov. 09

Der erste Konferenztag der Campus Innovation Hamburg bringt am Abend fünf Personen in der Podiumsrunde zusammen, zu denen auch ich gehöre. Die Moderatoren Igel und Kleimann bitten um Thesen: Drei zur gegenwärtigen Sachlage und drei mit einem Blick nach vorn. Der Beitrag von Informations- und Bildungstechnologien zur Hochschulentwicklung soll nicht aus dem Blick geraten, wozu die aktuellen Studierendenproteste verleiten könnten.

Wenn ich mich von der Protest-Laune der Studierenden anstecken lasse, dann werfe ich einmal aus Sicht einer Professorin meine Unzufriedenheiten in die Waagschale. Meine Universität ist als eine der ersten Hochschulen an die Umsetzung der Blogna-Reform gegangen, und so habe ich den Transformationsprozess durchlebt.
Hier meine drei Thesen und Unzufriedenheiten zum Sachstand Bologna: IT & Hochschulentwicklung:

  • Der IT-Betrieb des reformierten Studiums ist eine bürokratische Belastung, statt dass er im Stillen wie ein Uhrwerk läuft.
    Erfahrungs-Schlaglicht: Die Modularisierung hat nicht zu einer Verringerung der Komplexität in der Abwicklung der Studienprozesse geführt. Z.B. bekomme ich jetzt mindestens eine Aufforderungs- plus ein bis zwei Erinnerungsmails (vor Terminablauf !), meinen Kursbeschrieb termingerecht zu aktualisieren, und das 4-5-fach, da von jedem Studienstufen-Verantwortlichen (Bachelor, Master, Doktorat plus Ergänzungsbereich Handlungskompetenz) und dann nochmals zur Sicherheit vom Leiter des Masterprogramms, in dem ich unterrichte. D.h. 15 Mails gleichen Inhalts – inkl. einer mindestens einseitigen Bedienungsanleitung für das Content-Management-System, deren Anblick allein schon Stress auslöst. Die Mails fühle ich mich genötigt, zu verwalten, d.h. an meine Assistenten weiterzuleiten, denn die Mails landen erst mal bei mir. Davor ging das praktisch ohne Mailaufwand, die verantwortlichen Assistierenden haben eigenverantworlich an „DEN Termin“ gedacht.
  • Das Learning Content Management System ist eine Behinderung in meiner Gestaltungsfreiheit der Lehre auf Microebene (von Freiheit der Lehre als solche kann ohnehin nicht mehr gesprochen werden). Details sind in diesem Beitrag „Das Learning-Management-SYSTEM: Zwangsjacke fürs Lehren und Lernen“ zu finden. Kurz gefasst meine ich damit folgendes: Wie ich manche meiner Kurse didaktisch konzipiere, lässt sich im IT-System nicht abbilden, weil es diese Formate nicht kennt. Es müssen teils Felder im Online-Formular zwangsweise ausgefüllt werden, weil man sonst nicht speichern kann, d.h. man schreibt Unsinn rein, oder man muss unter einer fixen Auswahl einen Option wählen, die gar nicht zu dem passt, was und wie man es eigentlich vorhat (z.B. die Prüfungsform). Dass dies dann den Studierenden gegenüber zu mühsamem Erklärungsbedarf führt, kommt noch hinzu.
  • Die IT-Unterstützung erschwert den Zugang und Übergang zu Innovation: Die e-Learning-Tools da draussen blühen, und die Hochschul-IT-Systeme kommen nicht nach, sich mit diesen Blüten und Früchten auszustaffieren. Dozierende, die von den Früchten naschen, werden gestraft, denn sie müssen dem etablierten System ihre „Opfergaben“ bringen, d.h. Doppelerfassungen machen.

Fazit: Das mit der IT-Unterstützung, den IT-Operations an der Hochschule, kommt mir wie ein Produktivitätsparadoxon vor: Statt die Dozierenden von Routine-Transaktionen zu entlasten und den Kopf frei für die eigentliche inhaltliche Arbeit zu machen, kämpfen wir mit ihr wie gegen eine wuchernde Schlingpflanze.

Thesen Zukunftsvision

Jetzt kommen die Thesen zum Blick in die Zukunft. Wollen wir also einmal träumen. Ich fragte mich, wenn ich mein Dream-Team für Rektorat der Hochschule zusammenstellen würde, wen würde ich wählen?
Mein Dream Team wäre: Steve Jobs (Chef von Apple) – Jimmy Wales (Wikipedia Gründer) – Tim Brown (Ideo CEO). Mit diesem Triumvirat verbinde ich, dass sie Erfolge gegen die herrschende Meinung geschafft haben, der eine aus dem Nichts – und der andere aus einer tiefen Krise heraus, dass sie „Unmögliches“ geschaffen haben: Jobs räumt die „IT, die Technik“ aus dem Weg, verbannt sie aus der Wahrnehmung der Nutzer, und das durch und mit Spitzentechnologie. Wales steht für die Prinzipien „Open“ und „Meritokratie“; er hat ein Wertschöpfungsmodell abseits des Expertenkults entwickelt, dass aus Mass Collaboration Qualitätstexte und -dienste macht. Und Brown mit dem Design Thinking Ansatz  konnte ich in einem Video erklären hören und sehen, wie wichtig für Menschen und ihre Arbeitsergebnisse die Rahmenbedingungen sind, insbesondere die räumliche Umgebung, die Architektur. Könnte mein Unterrichtsraum nur in seinen Büros sein! Ich muss im Moment in einem Baucontainter mit weiss-kalten Wänden, sehr beengt unterrichten und spüre, wie sich dieses Umfeld erstickend auf das Unterrichtsgespräch und die Lerndynamik auswirkt.

Darauf bauen nun die Thesen bzw. Wünsche an die Dream-Team-Hochschulentwickler auf, Leuten aus der IT-Branche wohlgemerkt:

  • Kann Hochschule nicht wie ein App-Store funktionieren? Mit den Dozierenden als offener Entwickler-Community und den Studierenden, die sich die App-Kurse (auch physische) buchen, die ihnen gefallen? Kann die administrative IT von Unis nicht wie die Plattform, der App-Store, funktionieren? Können sich die Unis nicht auf die Aggregatorenrolle fokussieren, sich durch die Konfiguration von empfohlenen App-Kurssets ein Profil geben, Qualität durch Markt und Unternehmertum gewährleisten, und nicht durch Akkreditierungsräte?
  • Können Curricula nicht wie Wiki-Projects entwickelt werden? Und Kursbeschriebe wie Artikel in Wikipedia? Würde kollaborative (Dozierende, Hochschul-Studierende, Arbeitgeber/-nehmer, …) und kontinuierliche Lerninhaltsentwicklung nicht besser zu unserer Zeit passen?
  • Wäre eine wahre Elite-Uni nicht eine, die sich selbst neu erfindet? Das geht erfahrungsgemäss nicht aus den bestehenden Strukturen heraus, sondern die Universitäten müssten Inno-Labs, New Ventures ausgegründen, die mit allen Elementen des Wertschöpfungssystems ganz frei experimentieren können – und dafür Vertrauensvorschuss bekommen, das anerkannten Diplom auch auf diesem Wege verleihen zu dürfen.

So, Zeit jetzt für die Überleitungsbemerkung, die implizit in jedem Blogpost steckt: Seeking YOUR thoughts!

2 Kommentare zu diesem Artikel


  1. Campus Innovation 2009 | weiterbildungsblog schrieb:

    […] Hochschule Bayern), Andrea Back (Institut für Wirtschaftsinformatik, Universität St. Gallen, hier mit ihren Thesen zur Podiumsdiskussion) und Holger Tiedemann (Behörde für Wissenschaft und […]

  2. Peter Steiger schrieb:

    liebe andrea

    deine ausführungen sind für mich inhaltlich gut nachvollziehbar, breit abgestützt, technisch korrekt wenn nicht perfekt.

    nur

    wo bleibt der mensch? weswegen reist wohl der top manager heute nach shanghai und gleich abends wieder zurück? wieso nimmt er 30h reisen auf sich, einen irren zeitunterschied und ein unverständnis von allen seiten?

    weil, wie er mit den ausgestreckten mittel- und zeigefinger auf seine und meine augen zielend sagt: ‚ich muss seine augen lesen können‘.

    da hilft keine i-store apps und kein wiki. alle technischen helferlein, und sind sie noch so gut, werden letztendlich durch die entscheidung im bauch geprägt, gefühl und geführt. genauso wie das wohl- oder unwohlfühlen mit den gesamten technischen möglichkeiten von web2.0 & co.

    obwohl sich für mich nicht die frage ‚ja oder nein‘ stellt, kommt zumindest – und immer stärker – die frage nach dem sinn oder unsinn hervor. ebenso die suche nach der vernünftigen geschwindigkeit all dieser unglaublichen entwicklungen, wenn es diese als solche überhaupt gibt!

    gute grüsse zu dir aus der neuen alten langsamigkeit
    peter

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